Auch über 20 Jahre nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sexuelle Gesundheit als Teil der allgemeinen Gesundheit definiert hat, handelt es sich dabei noch immer um ein Tabuthema. Daher wurde nun von der Aids Hilfe Wien gemeinsam mit dem Dachverband der Sozialversicherungsträger und vielen weiteren KooperationspartnerInnen wie der Österreichischen und Wiener Ärztekammer und dem Institut für Sexualpädagogik eine Aufklärungsoffensive gestartet. Ziel der österreichweiten Kampagne „Lust auf Reden. Gemeinsam für sexuelle Gesundheit“ ist es, dieses Tabu aufzubrechen.
Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz betonten die PartnerInnen, dass die sexuelle Gesundheit unabdingbar für eine hohe Lebensqualität sei. Sie müsse unbedingt gefördert und geschützt werden. Derzeit stünden aber noch zu wenige leicht zugängliche Informationen rund um das Thema sexuelle Gesundheit zur Verfügung. Für viele Menschen sei es sehr schwer, über sexuelle Gesundheit und ihre Bedürfnisse, Ängste und Wünsche zu reden. Dies Scham müsse überwunden werden. „Wir haben Lust auf Sex und Lust auf Reden!“, verkündete Mag. Andrea Brunner, Geschäftsführerin der Aids Hilfe Wien. „Sowohl, wenn es um die Prävention von Krankheiten geht oder den Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen, als auch generell um Wohlbefinden oder Selbstakzeptanz, müssen wir es schaffen, offen sprechen zu können“, so Brunner.
Sexuelle Selbstsicherheit dient der Gesundheit
Im Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie (ISP) beschäftigt man sich mit der Frage, wie das Thema sexuelle Gesundheit dort angesiedelt werden kann, wo es besprochen werden muss. „Bisher wird, wenn über Sexualität gesprochen wird, eher über Risiken und Probleme geredet. Das greift aber zu kurz“, erklärte Mag. Wolfgang Kostenwein, Gesundheitspsychologe und Sexualtherapeut im ISP. Man müsse Menschen kompetent werden lassen, damit sie auch im Gesundheitskontext selbstsicher sind. Es gelte, den positiven Aspekt der Sexualität hervorzuheben und Menschen die Möglichkeit zu geben, über ihre Lust sprechen zu können.
„Lust auf Reden bedeutet auch reden über Lust.“
Mag. Wolfgang Kostenwein, Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie
Die Tabuisierung erzeuge Mythen und verhindere, über Sexualität zu reden und Kompetenzen zu erhalten. Als Beispiel nannte Kostenwein ein Gerücht, das in einer Jugendgruppe in Wien verbreitet war. Die Jugendlichen dachten, sie wären immun gegen HIV. „Der Grund war, dass ihnen gesagt wurde, sie würden HIV bekommen, wenn sie nicht mit Kondomen verhüten. Das haben nicht alle gemacht, aber sie blieben trotzdem negativ. Und so dachten sie, sie wären immun. Das ist ein anschauliches Beispiel dafür was passiert, wenn nicht ausreichend Wissen vermittelt wurde“, berichtete Kostenwein.
Der Psychologe wünscht sich, dass auf professioneller Ebene sexologisches Grundwissen in der Ausbildung verankert werden muss – also für Pädagoginnen und Pädagogen sowie für Ärztinnen und Ärzte und MitarbeiterInnen des Gesundheitssystems, die erste Ansprechpersonen bei sexuellen Fragestellungen seien.
Ziel: Prävention durch Aufklärung
Wohin die Tabuisierung führt, zeige auch das Jahr 2020, in dem deutlich weniger Tests für sexuelle übertragbare Erkrankungen („sexually transmitted infection“, STI) wie Syphilis, HIV oder Hepatitis durchgeführt wurden. Das sehen die KooperationspartnerInnen als Warnzeichen für deutlichen Handlungsbedarf. Es gelte, das Wissen über STIs zu erweitern und Hemmschwelle, sich testen und beraten und behandeln zu lassen, zu senken. Nicht zuletzt, weil die Zahl an Betroffenen in den vergangenen Jahren weltweit angestiegen ist. „Die WHO spricht mittlerweile von der ‚Stillen Epidemie der Geschlechtskrankheiten‘“, berichtete Mag. Ingrid Reischl, Vorsitzende der Konferenz der Sozialversicherungsträger. Anhand der wenigen in Österreich zur Verfügung stehenden Daten sehe man, dass auch hierzulande die Zahl an STIs Chlamydien, Gonorrhoe (Tripper), Syphilis und Hepatitis B ansteige. Geschlechtskrankheiten haben allerdings massive Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen.
Es gäbe also viele gute Gründe, Anstrengungen in Richtung mehr Aufklärung zu unternehmen. „Ich sehe sexuelle Gesundheit als ein Menschenrecht! Derzeit wird das Thema sexuelle Gesundheit immer noch oft als Randthema behandelt, obwohl es bei Weitem nicht nur Randgruppen betrifft, wie auch die internationalen Zahlen zeigen. Es muss also endlich aus der Tabuzone gehoben werden und offen darüber gesprochen werden können“, fordert Reischl. Die Maßnahmen müssen weg von Reparaturmedizin in Richtung Prävention gehen, um den Anstieg an Ansteckungen zu stoppen. Das könne mit der gemeinsamen Kampagne „Lust auf Reden“ erreicht werden.
„Jede Erkrankung, die wir mit Hilfe dieser Kampagne vermeiden können, erspart den Menschen und ihren Angehörigen viel Leid und Sorgen.“
Mag. Ingrid Reischl, Vorsitzende der Konferenz der Sozialversicherungsträger
Ärztinnen und Ärzte als Ansprechpartner
„Sexuelle Unzufriedenheit führt zu Krankheit. Umgekehrt können Erkrankungen auch zu einem Libidoverlust führen“, erklärte Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied, 1. Stv. Obfrau der Kurie niedergelassene Ärzte der Ärztekammer für Wien, die selbst als Allgemeinmedizinerin in Wien arbeitet. Für niedergelassene Ärztinnen/Ärzte sei es wichtig, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Patientinnen und Patienten aufzubauen, um Gespräche über Sexualität zu ermöglichen. Die Flyer der Kampagne, die nun in vielen Ordinationen aufliegen werden und die Spots im Wartezimmer sollen dazu anregen, beim Ordinationsbesuch über das Thema zu sprechen.
„Hausärztinnen und Hausärzte sind für Fragen rund um die sexuelle Gesundheit kompetente AnsprechpartnerInnen.“
Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied, 1. stv. Obfrau der Kurie niedergelassene Ärzte der Ärztekammer für Wien
Die Tools, die im Rahmen der Kampagne entwickelt wurden, sollen das Reden über sexuelle Gesundheit in der PartnerInnenschaft, beim ÄrztInnenbesuch, in der Schule oder im gesamten Alltag erleichtern. „Unter dem Slogan ‚Lust auf Reden‘ wollen wir einen positiven Zugang zum Thema anbieten. Lust und das darüber kommunizieren ist nichts, wofür man sich schämen muss. Es ist positiv!“, betonte Brunner abschließend.
Die Kampagnenmaterialien sowie alle Informationen zur Kampagne können auf der Website www.lustaufreden.at abgerufen werden.
Pressekonferenz der Aids Hilfe Wien, 26.7.2022