Dr. Corinna Geiger ist Internistin, Gastroenterologin und Hepatologin im ersten Wiener Gemeindebezirk. Als Fachärztin für Innere Medizin hat Sie sich auf komplexe Beschwerdebilder und die Vorbeugung, genaue Abklärung und ganzheitliche Behandlung von Störungen und Erkrankungen der inneren Organe spezialisiert, wobei die Betreuung von Patienten mit Magen-Darm-Beschwerden, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Erkrankungen des Verdauungssystems seit vielen Jahren einen besonderen Schwerpunkt ihrer Arbeit darstellt.
Welche Auswirkungen hat das Reizdarmsyndrom auf das Sozialleben der Betroffenen?
Dr. Corinna Geiger: Ganz häufig ist das Problem, dass die Leute sich nicht mehr richtig raustrauen. Dass einfach die Unsicherheit, die durch die Beschwerden entstehen, sei es, weil man Blähungen zurückhalten muss und nicht weiß, ob man es schafft, sei es, dass man schnell auf die Toilette muss, und nicht weiß, ob dort, wo man hingeht, eine ist.
Das macht die Leute psychisch fertig und ich glaube, jeder von uns, der mal einen Magen-Darm-Virus hatte, weiß, was es bedeutet, wenn man wirklich jetzt auf die Toilette muss – da gehst du nicht raus und das bedeutet natürlich, dass sich viele von den Patientinnen und Patienten immer mehr zurückziehen. Das ist natürlich für die psychische Gesundheit nicht förderlich und verstärkt das Problem. Wir wissen, dass Stress ein Trigger für Magen-Darm-Beschwerden ist. Die Beschwerden dann aber wieder noch mehr Stress auslösen und so die Beschwerden sich verschlechtern. Es entsteht oft ein Teufelskreis, wo es ganz schwierig ist, alleine wieder rauszukommen.
Bei welchen Symptomen sollte man hellhörig werden?
Dr. Corinna Geiger: Für mich als Gastroenterologin ist immer wichtig, zu unterscheiden. Ein Reizdarm an sich, ist extrem in der Lebensqualität einschränkend, aber ist grundsätzlich nicht gefährlich. Das heißt man stirbt nicht dran. Der Körper geht nicht kaputt, es ist einfach nur wahnsinnig lästig.
Für mich ist es allerdings auch wichtig, wenn jemand chronische Beschwerden hat, also zB. Bauchschmerzen die über einen Monat bestehen, Stuhlveränderungen, die über einen längeren Zeitraum nicht weggehen, kann das immer bedeuten, dass auch etwas anderes Schwerwiegendes dahinter steckt. Das heißt mein erster ganz wichtiger Schritt ist es, die gefährlichen Sachen auszuschließen. Das ist wichtig für die Patienten eine gewisse Sicherheit zu haben, dass nichts Gefährliches dahintersteckt.
Denn wir können das sicher alle gut nachvollziehen, wenn der Bauch schmerzt, besorgt uns das sehr. Das ist ganz anders, wie wenn einem beispielsweise das Knie wehtut, das kann man wegschieben und nach vier Wochen sagt man „jetzt wird es lästig, jetzt kann es dann langsam weggehen“.
Bei Bauchweh macht man sich immer Sorgen, dass etwas Schlimmes dahinter steckt. Und diese Sorgen tragen zu den Symptomen und zur Symptomerhaltung bei. Deswegen finde ich es ganz wichtig den Patienten oder die Patientin zu beruhigen. Zu sagen wir machen eine ordentliche Abklärung und schauen das nichts Schlimmes dahintersteckt.
Wenn es am Ende ein Reizdarmsyndrom ist, das heißt es sind funktionelle Darmbeschwerden, dann werden wir symptomatisch so gut helfen, wie es geht. Da gibt es genügend Optionen. Schon alleine die Tatsache, dass die Patienten sehen, ich werde ernst genommen, meine Beschwerden werden ernst genommen und ich kann mich verlassen dass mir nichts passiert, verbessert oft die Symptome schon.
Was weiß man über die Ursachen des Reizdarmsyndroms?
Dr. Corinna Geiger: Man definiert das Reizdarmsyndrom als Störung der Darm-Hirn-Achse, das heißt einfach, die Kommunikation zwischen unserem Darm beziehungsweise den Darmnervensystem, den ganzen Botenstoffen, die dort gebildet werden und unserem Gehirn läuft ein bisschen schief. Man kann sich das ein bisschen so vorstellen: Wenn wir überlegen, woher wir kommen, also evolutionsbiologisch betrachtet, dann ist es so, dass unser Gehirn Bauchschmerzen sehr ernst nimmt. Denn es könnte sein, dass wir etwas falsches gegessen haben und davon sterben könnten. Das passiert natürlich heute nicht mehr. Unser Körper ist aber bei Bauchbeschwerden weiterhin davon überzeugt, dass wir sterben könnten, und reagiert entsprechend noch genauso stark wie früher.
Einerseits ist es so, dass mit Dauer der Symptome wirklich mehr sensible Nervenfasern in unserem Magen-Darm-Trakt zu finden sind und das heißt, die Schmerzwahrnehmung verstärkt wird. Auch kleine Reize, die uns vielleicht früher gar nicht so viel ausgemacht hätten, sorgen auf einmal für Beschwerden und werden an unser Gehirn gemeldet mit „Achtung, da ist schon wieder irgendwas los!“ Da gibt es auch Studien dazu, die genau das untersuchten und bestätigten.
Man hat einen Ballon im Darm aufgepustet und geschaut, ab welcher Ballongröße die Patienten das spüren und das war bei den Reizdarm-Patienten deutlich früher, als bei der Kontrollgruppe. Das heißt die ist die viszerale Wahrnehmung, also die Wahrnehmung, was da im Bauch los ist, ist gesteigert. Man ist hypersensibel sozusagen. Das ist ein Teil der Sache. Man findet natürlich auch viele Änderungen des Mikrobioms, also der Zusammensetzung unserer Bakterien, Viren, Pilze im Darm. Aber letztendlich ist es ein, ich sage jetzt mal, misch masch aus ganz vielen verschiedenen Faktoren, die schief laufen und das macht die Diagnose auch schwierig.
Natürlich führt auch chronischer Stress zu Veränderungen im Hormonhaushalt und kann das Immunsystem verändern und andersrum geht es aber genauso. Also, wenn im Darm irgendwie eine Mikro-Entzündung ist, die nicht weggeht, wenn wir schlecht essen dann kann das natürlich andersrum genauso getriggert werden. Also, das ist wirklich das Zusammenspiel zwischen Darm und Gehirn, was ein sehr wichtiges ist und was in unserer Gesundheit eine große Rolle spielt.
Gibt es auch eine genetische Komponente, die zum Reizdarmsyndrom beiträgt?
Dr. Corinna Geiger: Da ist man sich nicht 100 % sicher, wie viel Rolle die Gene wirklich spielen. Ein großer Faktor ist, ist das Lernen. Viele Kinder bekommen von ihren Eltern schon früh mit, der Bauch ist ein Thema, die fassen das schnell auf und achten mehr darauf. Das ist eine Sache und dann sind auch viele Dinge genetisch bestimmt, die zu einem Reizdarmsyndrom beitragen können.
Unsere Ernährung hat auch Einfluss. Kinder essen normalerweise dasselbe wie ihre Eltern. Wir nehmen an, dass die Ernährung eines Reizdarm-Patienten auch mit zum Mikrobiom beiträgt, dass den Reizdarm erhält. Ich glaube es ist mehr eine Mischung, vielleicht gibt es eine genetische Veranlagung, wir sind aber in diesem Fall nicht die Sklaven unserer Gene sondern es kommt ganz entscheidend auch auf unsere Umweltfaktoren an.
Haben Sie den Eindruck, dass die Zahl der Patienten mit Reizdarmsyndrom zunimmt?
Dr. Corinna Geiger: Ich sehe sehr viel mehr Patienten mit funktionellen Darmbeschwerden. Ich glaube es ist eine sowohl als auch Antwort. Denn einerseits ist mein Gefühl, dass die Leute sehr viel bewusster mit ihrer Darmgesundheit umgehen. Weil es immer mehr ein Thema ist und in den Medien immer mehr thematisiert wird, wie wichtig es ist, dass man einen gesunden Darm hat und dass dort die Gesundheit anfängt.
Dann stellen sich natürlich viele die Frage: „Passt mein Stuhlgang denn eigentlich so wie er ist?“ Ich habe immer wieder Blähungen und sind deswegen einfach besorgt. Bei manchen stellt man die Diagnose, die sind aber nicht früher zum Arzt gegangen, aber das sind wahrscheinlich die, wo der Reizdarm schon länger besteht.
Andererseits ist da auch unser Lebenswandel, der sich immer mehr in Richtung Dauerverfügbarkeit von allem ändert und der Stress wird einfach mehr. Das macht etwas mit uns, dafür sind wir schlichtweg nicht gebaut. Es gibt die Leute die eher über das Herz-Kreislaufsystem reagieren, die hohen Blutdruck bekommen oder zu Kopfschmerzen neigen und es gibt Leute, die über den Darm reagieren und zu Durchfall neigen oder bei Stress Verstopfung bekommen.