Adipositas Allianz
Foto: SeventyFour/shutterstock

Allianz für Menschen mit Adipositas

Ziel der von mehreren Fachgesellschaften gegründeten Österreichischen Adipositas Allianz ist es, ein zeitgemäßes Bild der Erkrankung Adipositas zu vermitteln. Ihre Forderung: Prävention, Therapie und medizinische Ausbildung der realen Situation anzupassen sowie die Stigmatisierung der Betroffenen zu beenden.

In Österreich liegt die Zahl der Menschen über 15 Jahren mit Adipositas (BMI > 30 kg/m2) mit 16,6 Prozent etwas über dem EU-Durchschnitt, allerdings mit stark ansteigenden Zahlen seit 2014. Vor allem bei jungen Männern mit Adipositas befindet sich Österreich im Spitzenfeld der EU. Trotz der hohen Zahl an Betroffenen gibt es bisher keinen „Masterplan“ für Adipositas, weder für Prävention noch Therapie der ernstzunehmenden, aber behandelbaren Erkrankung.

Die Österreichische Adipositasgesellschaft (ÖAG), die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) und die Österreichische Gesellschaft für Adipositas- und metabolische Chirurgie (ÖGAMC) haben nun die Österreichische Adipositas Allianz gegründet, um gemeinsam eine Verbesserung der Versorgungssituation für adipöse Menschen zu erreichen. Die Stimme der von Adipositas betroffenen Menschen ist ebenfalls in der Allianz vertreten.

„Aktuell ist die Versorgung für Menschen mit Adipositas in Österreich absolut unzureichend!“

Johanna Brix, Präsidentin der ÖAG

Die Expertinnen und Experten ersuchen die EntscheidungsträgerInnen aus Gesundheitspolitik und Sozialversicherung umgehend zu handeln. Dazu wurde ein Forderungskatalog erstellt, der u.a. beinhaltet, dass Adipositas als ernstzunehmende und eigenständige Erkrankung anerkannt werden muss. International wurde Adipositas bereits ein Klassifizierungscode für Krankheiten (ICD-10-CM Code E66) zugewiesen. Trotzdem würden die Entscheidungsträger hierzulande Adipositas als individuelles „Life-Style-Problem“ verkennen. Dies verhindere eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema und blockiere das Etablieren effizienter Präventions- und Therapiemaßnahmen, so die Allianz.

Diskriminierung Betroffener beenden

In fast allen Lebensbereichen erfahren die Betroffenen derzeit Diskriminierung und Stigmatisierung, deren Ende von der Allianz gefordert wird. Im Erwerbsleben würden adipöse Menschen bei der Jobvergabe benachteiligt, adipöse Jugendliche würden schwerer Lehrstellen finden. Und auch das österreichische Gesundheitswesen benachteilige die Betroffenen, so die Allianz. Denn während Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen viele Therapien von der Krankenkasse bezahlt werden, müssen Menschen mit Adipositas geschätzte zwei Drittel der Therapiekosten privat zahlen.

Eine weitere Forderung ist die effektive Verhältnisprävention. Es sei dringend nötig, den „gesunden Weg“ zum einfachsten zu machen und Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Es brauche nicht einzelne Projekte, sondern breit aufgestellte Behandlungsmodelle, um dieser vulnerablen Gruppe helfen zu können, so Brix.

„Etwa 40.000 Kinder und Jugendliche in Österreich leiden unter einer morbiden Adipositas, wovon 4.000 bis 8.000 bereits Begleit- und Folgeerkrankungen haben.“

Johanna Brix, Präsidentin der ÖAG

Außerdem notwendig sei ein freier und einfacher Zugang für Menschen mit Adipositas zu einer individuell angepassten multifaktoriellen Adipositastherapie sowie das Aufsetzen eines Disease Management Programmes gemeinsam mit den Gesundheitskassen und der Gesundheitspolitik. Derzeit sei keine Therapiesäule ausreichend verfügbar, weder Ernährungs- und Bewegungstherapie, noch eine psychologische Betreuung. Auch am Markt verfügbare, nachweislich wirksame medikamentöse Therapien werden nicht erstattet.

Menschen als Menschen sehen

Aufklärung über das Krankheitsbild fordert auch Barbara Andersen. Sie ist klinische und Gesundheitspsychologin und vertritt als Delegierte der europäischen Organisation EASO-ECPO Menschen mit Adipositas in Österreich. „Es gibt viele Ursachen für Adipositas, in rund 70 Prozent der Fälle ist Genetik der Hauptfaktor. Viele wissen das nicht und schreiben Betroffenen Eigenschaften zu wie faul oder undiszipliniert“, so Andersen. Dadurch komme es auch im privaten Umfeld zu Missverständnissen, die zum sozialen Rückzug und Depressionen der Betroffenen führen können.

„Die Österreichische Adipositas Allianz kämpft für ein neues gesellschaftliches Verständnis der Erkrankung und für Menschen mit Adipositas. Nur so können die Betroffenen aus der Ohnmacht entkommen, Handlungsspielraum für ihre Erkrankung gewinnen.“

Barbara Andersen, klinische und Gesundheitspsychologin

Auch von der Österreichischen Ärztekammer kommt starke Unterstützung für die Initiative. Präsident Thomas Szekeres betont, dass die österreichischen Ärztinnen und Ärzte Menschen mit Adipositas jeden Tag betreuen. „Aber sie müssen die Betroffenen nach aktuellem medizinischem Wissensstand und gültigen Leitlinien behandeln können und zudem genug Zeit für dieses komplexe Krankheitsbild haben.“ Weiters brauche es mehr Ausbildung und Fortbildung für das medizinische Personal und Angehörige weiterer Gesundheitsberufe, so Szekeres.

Kosten gesamtwirtschaftlich betrachten

Thomas Czypionka, Head of IHS Health Economics and Health Policy, verweist auch auf die gravierenden Auswirkungen der Erkrankung auf die Gesamtwirtschaft: „Diese Erkrankung ernst zu nehmen und nachhaltig zu behandeln ist nicht nur dringend geboten, sondern für die Gesellschaft insgesamt wertvoll.“ Die letzten Prognosen der OECD für Europa zeigen, dass Adipositas zwischen 2020 und 2050 das österreichische BIP im Schnitt um 2,5 Prozent pro Jahr reduziert. Miteingerechnet werden hier auch indirekte Kosten wie Krankenstände, vorzeitige Pensionierungen etc. Bezogen auf das BIP 2021 von 403 Milliarden Euro ginge es also um jährlich rund 10 Milliarden Euro.


Lösungen für diese Herausforderung können nur gemeinsam und auf einer breiten Basis entstehen. Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer: „Für eine frühe Diagnose und professionelle Betreuung braucht es den Schulterschluss der Gesundheitsberufe. Es muss möglichst viele Anlaufstellen geben, die bei Adipositas beratend zur Seite stehen.“ In Apotheken wolle man einen geschützen Raum anbieten, in dem ohne Hemmschwelle Rat gesucht werden kann.

Mehr Informationen zur Österreichischen Adipositas Allianz: www.adipositas.at
Zum Forderungskatalog der Österreichischen Adipositas Allianz geht es hier: Forderungskatalog
Zur Österreichischen Gesundheitsbefragung des IHS geht es hier (in englischer Sprache): Obesity and overweight in Austria

  • Autor

    Mag. Simone Peter-Ivkic

    Medizinjournalistin

    Simone Peter-Ivkic ist seit 2011 als freie Medizinjournalistin tätig. Sie hat Anglistik und Publizistik an der Universität Wien studiert und fand anschließend ihre Leidenschaft für medizinische Themen.

Pressegesprächs zur Gründung der Adipositas Allianz, 21. Juli 2022, Wien

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