Zusammenfassung
Factbox – Darmmikrobiom
Gewicht: ca. 100 g (und nicht wie oft angenommen 1,5 bis 2 kg!)
Menge der Bakterien: etwa gleich viele wie Zellen im menschlichen Körper (und nicht zehnmal so viele!)
Wissen: ist begrenzt. Etwa 80 Prozent der Gründe für die Bakterienvielfalt (Diversität) sind noch unerforscht
Stuhltransplantation: nur für Colstridium-difficile-Infektion zugelassen
In einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten sprach Prof. Dr. Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik II am Helions Klinikum Krefeld (D) über das Mikrobiom und den derzeitigen Wissensstand zum Thema. Dabei ging es auch um Mythen und angebliche gesundheitsfördernde Maßnahmen.
Der Magen-Darm-Trakt ist das längste Organ im Körper und jeder Bereich davon ist von Bakterien besetzt. Die Sammlung von Mikroorganismen (Mikrobiota), die in einer bestimmten Umgebung wie dem Magen-Darm-Trakt leben, wird Mikrobiom genannt.
Das gastrointestinale Mikrobiom hat dem derzeitigen Wissenstand zufolge eine enorme Bedeutung für Gesundheit, z.B. für das Immunsystem. Diese „Bakterienflora“ im Darm spielt aber auch eine bedeutende Rolle bei der Regulation vieler Körperfunktionen (z.B. Verdauungsfunktionen) und bei Erkrankungen (z.B. chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Reizdarmsyndrom und Störungen der Darm-Hirn-Achse).
Welche Bakterien bevölkern den Darm?
In großen Analysen, sogenannten Metagenomanalysen, wurden weltweit fast 2.000 verschiedene Darmbakterien gefunden. Diese sind aber nicht alle zu gleichen Teilen in unserem gastrointestinalen Mikrobiom anzutreffen. Einige Stämme, wie Bacteriodetes und Firmicutes, sind dominant. Andere, wie Actinobacteria, Proteobacteria und Verrucomicrobia, sind in geringerer Anzahl zu finden. „Es scheint, dass einzelne individuelle Gruppen eine große Bedeutung für die Stabilität des gastrointestinalen Mikrobioms haben“, erklärte Frieling.
Was ist ein gesundes Magen-Darm-Mikrobiom?
Obwohl es viele wissenschaftliche Untersuchungen gibt, ist noch immer nicht möglich, das „gesunde“ Mikrobiom im menschlichen Darm zu definieren. „Derzeit bestehen noch große Wissenslücken. Dazu kommen viele Mythen, die falsche Informationen über das gastrointestinale Mikrobiom beinhalten“, klärte Frieling auf. So seien grundlegende Vorstellungen über die Menge des Mikrobioms nach neueren wissenschaftlichen Untersuchungen falsch. Anders als lange angenommen wiege das Mikrobiom im Magen-Darm-Trakt nicht 1,5 bis zwei Kilogramm, sondern „nur“ rund 100 Gramm (im gesamten menschlichen Körper liegt die Bakterienmasse bei etwa 200 Gramm). „Auch die Behauptung, die Menge der Bakterien in unseren Körpern übersteige die Zahl der menschlichen Körperzellen um das Zehnfache hat sich als haltlos herausgestellt. Heute weiß man, dass das Verhältnis von Bakterien- und Körperzellenzahl etwa gleichwertig ist“, so Frieling.
„Das Aufdecken von Mythen soll die Bedeutung des Mikrobioms nicht mindern, sondern zeigen, dass viele grundlegende Dinge noch nicht erforscht sind.“
Prof. Dr. Thomas Frieling
Derzeit wisse man auch noch zu wenig über die „richtige“ Zusammensetzung der Bakterien. „Die Gründe für etwa 80 Prozent der wichtigen Bakterienvielfalt (Diversität) im Magen-Darm-Trakt sind noch völlig unklar“, konkretisierte Frieling. Daher sei es auch nicht möglich, das menschliche Mikrobiom so zu beeinflussen, dass die Gesundheit gefördert wird. Schlüsselfaktor für die Beeinflussung des Mikrobioms dürfte die Ernährung sein. Diese spielt auch für die Energiebilanz – also das Verhältnis zwischen Energiezufuhr und -verbrauch – eine bedeutende Rolle. Allerdings ist auch hierzu das Wissen noch zu lückenhaft, um gesicherte Aussagen treffen zu können.
Was bringen Bakterienuntersuchungen im Stuhl?
Ein weiteres, noch zu wenig erforschtes und somit wissenschaftlich nicht fundiertes Feld sind Bakterienuntersuchungen. Die Suche nach pathogenen (krankheitserregenden) Erregern im Stuhl (z.B. Salmonellen, Rotaviren) wird zur Klärung von Durchfallerkrankungen erfolgreich eingesetzt. Anders sehe dies bei der Untersuchung des individuellen Mikrobioms aus: „Hart ausgedrückt würde ich Stuhltests zur Analyse des Darmmikrobioms als ‚Voodoo-Medizin‘ bezeichnen. Klinisch haben diese Untersuchungen jedenfalls keine Bedeutung“, stellte Frieling klar. Schon alleine der Zeitrahmen den es von der Probeentnahme bis zur Untersuchung im Labor nach etwa ein bis drei Tagen benötigt, mache derartige Stuhluntersuchungen unbrauchbar. Denn währenddessen wachsen die Bakterien im Stuhl weiter und damit seien die Proben nicht repräsentativ für die aktuelle Situation im Darm.
Die Ergebnisse von Mikrobiomanalysen im Stuhl sind selbst in wissenschaftlichen Studien unklar. Grund dafür ist die unzureichende Standardisierung des Stuhlverhaltens – sprich, die Werte sind nicht vereinheitlicht und somit nicht vergleichbar. Das Mikrobiom und seine Bakterienvielfalt werden von der Häufigkeit des Stuhls, der Menge, der Beschaffenheit/Konsistenz und dem Wassergehalt darin bestimmt. Dies wird mit der sogenannten Bristol Stool Form Scale beschrieben. Außerdem hängen alle diese Faktoren mit der Zeit, die die Nahrung braucht, um den Darm zu durchlaufen (die Darmtransitzeit), zusammen. All das werde aber in den meisten Studien nicht berücksichtigt.
Ebenfalls noch zu wenig Wissen gäbe es über die Bakterien in der Darmschleimhaut (Mukosa-assoziierte Bakterien). Diese Schleimhaut nimmt einerseits Wasser und Nährstoffe aus der Nahrung auf, andererseits bildet sie eine Schutzschicht vor Krankheitserregern. „Die Bakterien, die hier arbeiten, können wie aber im Stuhl gar nicht messen“, erklärte Frieling. „Das ist aber wahrscheinlich der entscheidende Teil des Mikrobioms, der über die Schleimhaut mit dem Immun- und Nervensystem interagiert. Viele der heute bekannten Ergebnisse werden also in ihrer klinischen Relevanz überschätzt!“
Welche Bedeutung hat das Darmmikrobiom bei Erkrankungen?
So wie es noch große Wissenslücken über die Zusammensetzung des gastrointestinalen Mikrobioms gibt, bestehen diese auch über die Relevanz des Mikrobioms bei Erkrankungen. In Tierversuchen gäbe es bereits beeindruckende Ergebnisse, wie Frieling berichtete. Durch die Übertragung von Stuhl von einem Tier in ein anderes (fäkaler Mikrobiomtransfer) konnten Erkrankungen beeinflusst oder auch ausgelöst werden. In diesem Zusammenhang gibt es viele Daten zur Übertragung von rheumatoider Arthritis und Diabetes mellitus durch Darmbakterien von kranken auf gesunde Tiere. Auch zu neurologischen Erkrankungen und zum Reizdarmsyndrom gibt es Untersuchungen. Viele der Ergebnisse stammen allerdings aus grundwissenschaftlichen Arbeiten und lassen sich nicht 1:1 auf den Menschen übertragen, stellte Frieling klar. Während es also in Tierversuchen beeindruckende Ergebnisse zur Stuhltransplantation gäbe, sei diese bei Menschen nur für die Clostridium-difficile-Infektion etabliert und zugelassen. „Bei den meisten Erkrankungen kann zwar eine Abnahme der Mikrobiomdiversität nachgewiesen werden, eine verlässliche Charakterisierung von typischen krankheitsbestimmenden Bakterien ist aber aufgrund der heterogenen und unzureichenden Studienlage nicht möglich.“
Welche Rolle spielt das Darmmikrobiom beim Reizdarmsyndrom?
Auch für das Reizdarmsyndrom spielt das Mikrobiom eine große Rolle. Wie bei fast allen Erkrankungen hat man auch hier festgestellt, dass die Vielfältigkeit der Bakterien – die Diversität – reduziert ist, so Frieling. Es sei aber noch nicht gelungen, ausreichend Bakterien zu identifizieren, die für die Erkrankung verantwortlich sind. Versuche man also, über das Mikrobiom therapeutisch einzuwirken, entspräche das einem Trial-and-Error-Konzept. Man müsse also gewisse Dinge ausprobieren. „Der Einsatz von Probiotika ist beispielsweise absolut gerechtfertigt, aber man kann nicht ein Probiotikum favorisieren. Es gibt in der Reizdarmleitline Empfehlungen für bestimmte Probiotika bezogen auf die vorherrschenden Symptome. Die Datenlage hierzu ist aber so schlecht, dass man in der klinischen Praxis immer ausprobieren muss, was wirkt.“
Anders als bei der Clostridium-Difficile-Kolitis sei eine Stuhltransplantation beim Reizdarmsyndrom außerhalb von Studien unzulässig. In wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen sich allerdings Effekte für Untergruppen von Reizdarmsyndrom-Patientinnen/Patienten. Dabei könnten möglicherweise nicht die Bakterien selbst, sondern Bestandteile der Darmflüssigkeit (u.a. Bakteriophagen) für die gesundheitsfördernden Effekte verantwortlich sein.
Das gastrointestinale Mikrobiom spiele eine enorme Rolle für Magen-Darm-Erkrankungen, auch für das Reizdarmsyndrom. Bis auf eine verminderte Diversität konnten aber noch keine einzelnen Bakterien identifiziert werden, die für eine Behandlung der Erkrankungen eingesetzt werden könnten, stellte Frieling abschließend fest.
Jahrespressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten, 5. Juli 2022